In der tiefschwarzen Nacht dümpelte ein alter Holzkahn Welle für Welle immer näher ans seichte, schilfbewährte Ufer ran. Die Ruder waren über Bord gegangen, ebenso wie die Hoffnung. Ein paar einzelne Fische lagen tot im Rumpf des Kahns. Daneben ein wettergegerbter Mann, der kaum noch atmete. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen.
Das Schicksal war ihm wohlgesonnen. Die Strömung trug ihn direkt in den breiten Schilfgürtel der Krautinsel. Bei Sonnenaufgang fuhr ein kleiner Nachen geradewegs Schlag für Schlag über den jetzt stillen See auf die kleine Insel zu. Es war Erntezeit für das Härekraut, bevor die Blüte begann. Schwester Loni ließ sich regelmäßig in aller Frühe von Max rüberrudern, um ihre Heilkräuter zu ernten. Härekraut löste Krämpfe aller Art und gab auch einen würzigen Geschmack in der Suppe ab. Die Klosterköchin hatte schon nachgefragt.

Max vertäute das Boot am Steg und hielt den Nachen fest, damit Schwester Loni sicher aussteigen konnte. Ein kleines Kunststück bei den Stoffmengen des schwarzen Habits ihrer Schwesterntracht. Ein schwacher Laut durchdrang die Stille der Morgendämmerung und bahnte sich seinen Weg durch frühes Vogelzwitschern und leichten Wellenschlag. Der Holzkahn des Fischers hatte sich in der Nacht unweit der Anlegestelle verfangen. Im Todeskampf drang etwas Luft aus seinen Lungen und rettete ihm das Leben. Schwester Loni fand ihn zwischen den Binsen, verschaffte ihm Luft und Max brachte den Fischer sicher ins Hospital zur Klosterinsel. Die Zeit dort blieb dem Fischer nur vage in Erinnerung. Die meiste Zeit war er im Delirium.

„Guten Morgen, mein Lieber. Wie fühlst du dich?“ „Mia?“ „Ja. Schön, dass du mich erkennst.“ „Ich würd dich immer erkennen.“ „Das sag mal dem kranken Mann, der hier wochenlang um sein Leben gekämpft hat.“ „Was ist passiert?“ „Das wissen wir nicht. Wir haben gehofft, du erzählst es uns. Schwester Loni und Max haben dich so gut wie tot auf der Krautinsel gefunden.“

Die Erinnerung setzte nur langsam ein. Sobald er wieder gehen konnte, ging er – zuerst von Mia gestützt und später allein – jeden Tag zur Marienlinde und betete für seine Seele. Die uralte Dorflinde war ihm näher als das ehrfurchtgebietende Klostergebäude, in dem die adeligen Schwestern lebten. Er war ein einfacher Fischer und die Fischer hatten immer an der Marienlinde Schutz gesucht. An diesem frühen Sommermorgen, kam auf einmal die Erinnerung über ihn. Es waren erst nur einzelne Erinnerungsfetzen. Ein wilder Strudel mitten in stürmisch, regnerischer Nacht auf dem See. Das überwältigende Gefühl des Grauens, das kein Entrinnen barg. Ein Grollen wie aus einer anderen Welt. Ein heller Blitz, der seine Sicht verzerrte und dann die Dunkelheit.
„Mia, da draußn gibts a Ungeheuer. Ich hab es selbst gesehn.“ „Joschi, was meinst du nur? Ungeheuer gibts hier nicht.“ „Doch, sicher. Groß, schwarz und stinkig wie aus der Hölle.“ „Du spinnst. Du hast zu lang in der Sonne gebretzelt.“ „Nu glaub mir doch. Ich habs gesehn.“ „Na, lass mal schaun, was die Mutter Oberin dazu sagt.“ „Nicht die Mutter Oberin. Die glaubt noch, ich bin verrückt und will den Beelzebub aus mir austreiben. Ich sprech mit den anderen Fischern.“ „Nun, wie du meinst.“
Die anderen Fischer wurden zuerst ganz stumm, als Joschi mit ihnen sprach. Aber sie hielten ihn nicht für verrückt und wollten auch keinen Beelzebub aus ihm rausjagen. Übers Jahr hinweg hatte mehr als einer etwas gesehen, gehört oder gerochen, das so nicht normal war und nicht zu ihrem See gehörte. Aber keinem war es bisher ans Leben gegangen. Sie sahen es als eine Gnade der heiligen Maria, Mutter Gottes, dass Joschi überlebt hatte. Es war Zeit zu handeln.
Die Fischer stellten fest, dass die ungewöhnlichen Ereignisse phasenweise auftraten, besonders um Vollmond rum und fast immer nahe der Zwillingsinsel. Dort wurd es auch immer schwieriger, genügend Seidlinge zu fischen, die ihnen sonst in Schwärmen ins Netz gegangen waren. Sie beschlossen, sich um den nächsten Vollmond herum jeweils zu viert um die Insel auf Wache zu legen, von der Dämmerung bis Mitternacht und die Ablöse von Mitternacht bis zum Morgengrauen. Das fiel nicht weiter auf, weil es ohnehin typische Zeiten zum Fischen für sie waren. Nachts war der Fang besser.

In der dritten Nachtwache tauchte es plötzlich auf. Erst ein Gluckern, dann ein Zischen, dann ein Donnerschlag, dann ein Blitz und dann ein Höllengestank. Franzl, der diesseits der Insel war, konnte sich grad noch in Deckung bringen. Die Fischer versammelten sich auf der Krautinsel. „Habt ihr es gesehen? Es war riesig!“ Franzl klapperten vor Schreck noch immer die Zähne. „Geh Franzl. Es war nicht riesig. Es waren zwei. Und sie kamen von der kleinen Kapelle auf der Zwillingsinsel. In schwarzen Capes und schwarzen Hüten.“ „Stimmt Basti. Sie kamen in einem großen Boot. Ich habs auch gesehen.“ „Aber Toni, der Gestank. Das Licht?“ „Wenn du mich fragst, läuft da a ganz krumme Tour. Lois, ruf doch morgen die anderen zusammen. Ich glaub, wir müssen mal mit dem Voigt reden.“ „Mach i, Toni.“

Der Voigt war glücklicherweise ein verständiger Mann. Dummerweise hatte er eigene Interessen. Die zwei dunklen Gestalten waren in seinem Auftrag unterwegs. Sie testeten neue Schießpulvermischungen, die auch unter Wasser explodieren konnten. Die neue Mischung ließ sich teuer verkaufen und versprach ihm einen guten Stand beim König. Das konnte er den Fischern natürlich nicht sagen und so vertröstete er sie mit dem Versprechen, den mysteriösen Ereignissen auf den Grund zu gehen. Toni, Basti, Franzl, Joschi verschwanden einer nach dem anderen und keiner wusste wohin. Bald fragte auch keiner mehr. Aber die Geschichte vom Seeungeheuer bekam ihre ganz eigene Bedeutung und wuchs von Generation zu Generation und das Seeungeheuer mutierte in den Geschichten zu einer überdimensionalen Schlange mit Menschenkopf, mit der Knollennase und den stechenden Augen, die an den alten Voigt hätten erinnern können, wenn man ihn denn noch gekannt hätte.
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Fußnote
Die Geschichte ist reines Anglerlatein. Und außer dass mir die Idee dazu am Chiemsee kam mit seiner Fraueninsel, der Marienlinde, der Krautinsel und dem Kapellchen auf der Herreninsel, entbehrt sie jeder realen Grundlage.
Der Chiemsee ist ein beschaulicher Ort und sicher hat es keinen schlangengleichen Voigt und heimliche Unterwasserwaffentestungen gegeben. Aber die Vorstellung war verführerisch und ein Seeungeheuer vor imposanter Bergkulisse fand ich faszinierend. Es ist ein Ort der Phantasie.