London Timewarp

Fast zwei Lebensabschnitte hat es gebraucht, bis sich endlich wieder die Gelegenheit ergeben hat, London zu besuchen. Diesmal sind wir durch den legendären Eurotunnel gefahren. Vor gut dreißig Jahren noch ein utopischer Wunschtraum und heute eine Selbstverständlichkeit. Von Aachen aus ein Katzensprung mit hochprofessionalisierter Abfertigung wie am Flughafen, inklusive automatischer Passkontrolle in Brüssel. Heute wird schon darüber diskutiert, ob nicht zwischen den Finanzmetropolen Frankfurt und London eine Direktverbindung – wenn möglich über Aachen – entstehen wird. Gewünscht, gewollt und geplant ist schon Vieles. Allein der Aufwand ist enorm. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das hat der Tunnelbau gezeigt: ein Triumph der Technik und Ingenieursleistung. Bis dahin mag jedoch noch einige Zeit ins Land gehen. Wir haben jedenfalls die Gunst der Stunde genutzt und 2023 ein paar wunderschöne österliche Touristentage in London verbracht.

Der Eurostar hält in St Pancras. Ein klassisch schöner, belebter Bahnhof vis-a-vis Kings Cross. Von dort aus geht es per tube und Bus in alle Richtungen, also auch nach Blackheath zum Clarendon Hotel, in dem wir uns einquartiert haben. London fährt Oystercard. Ausgesprochen praktisch. Solange man einmal im Netz eingecheckt ist, braucht man sich um nichts zu kümmern. Beim Auschecken aus dem Netz wird automatisch die kürzeste Entfernung berechnet. Nur ausreichend aufgeladen sollte die Karte sein. Das ist problemlos über die Automaten an den U-Bahnhöfen und Bussteigen möglich. Was mir allerdings von meinen früheren Besuchen nicht mehr gegenwärtig war, ist dass die Rolltreppen der underground sehr schnell, sehr steil und sehr tief laufen und allzuviele Alternativzugänge mit Fahrstühlen gibt es nicht. Man sollte gut zu Fuß sein, mit leichtem Gepäck reisen und möglichst schwindelfrei sein.

Das Clarendon in Blackheath ist ein georgianisches Haus mit typisch englisch klassischer Atmosphäre und gutem Essen. Ganz besonders fish and chip und die sausages der regionalansässigen Bauern waren eine Köstlichkeit. Und dann erst die Shepherd’s Pie im Ivy in Blackheath! Das Ivy Café hat phantasievoll floral jugendstilartig gestaltete Decken und Wände. Sehr stimmungsvoll und gemütlich. Einen Tisch für mehr als zwei Personen sollte man sich rechtzeitig buchen. Wir hatten insgesamt viel Glück. Unser Zimmer im Clarendon war ruhig im oberen Stockwerk gelegen. Sehr georgianisch mussten wir über einige Treppen im Hinterhaus hinaufsteigen, dafür war es sehr sauber und heimelig. Das Hotel war um die Zeit zwar gut besucht, aber nicht überbelegt, so dass wir auch beim Frühstück nicht warten mussten und die Auswahl war groß und abwechslungsreich. Die Anbindung an London ist hervorragend. 20 Min mit dem Bus nach Waterloo Station, von dort aus mit der underground ins Zentrum. Der Bus fährt direkt vor dem Hotel ab. Zu Fuß geht es über das alte Blackheath-Schlachtfeld in 10 Min. in den Greenwich Park und in 20 Min. zum Royal Observatory. Besser geht es nicht. Der Greenwich Park hat einen uralten Baumbestand und vom Hügelkamm aus eine traumhafte Aussicht auf Themse und London Mitte. Auf dem Weg zum Royal Observatory sind wir querfeldein über das alte Blackheath-Schlachtfeld gelaufen, auf dem zur Zeit nur eine Schlacht auf die Ohren stattfand: ein paar Fahrgeschäfte mit lauter Musik und so wenig historisch, dass es gut war, dass nur ein kleiner Platz damit belegt wurde. Das restliche Feld war britisch saftiges Grasgrün mit einer herrlich, beschaulichen mittelalterlichen Kirche und weitem Blick.

Blackheath an sich ist ein altes beschauliches Dorf. Ganz schön hügelig. Wir haben uns sofort wohl gefühlt. Der Greenwich Park ist äußerst groß und war um die Ostertage mit jungen Menschen, Studenten und Familien bevölkert. Sogar eine kleine Ostergeschichte wurde in einem Freilufttheater auf dem Weg zum Nullmeridian aufgeführt mit Musik für die Kleinsten. Der Nullmeridian selbst ist einfach eine Reise wert.

Nicht nur wegen des steinigen Striches in der Backsteinmauer, sondern wegen der Geschichte, der Bedeutung und der traumhaften Umgebung dort oben auf dem Hügel. Ein Blick bis zum Horizont, der daran erinnert, dass London ein internationaler Anlaufpunkt für die maritime Handelsflotte und Kriegsschiffe war.

Die maritime Kultur wird im Maritim-Museum am Fuße des Greenwich-Parks wunderbar für die ganze Familie aufbereitet und ist auch noch kostenlos zugänglich. Ein Umstand, der uns spontan zu einem Museumsbesuch verführt hat. Der ganze Tag war ein einziger Entspannungstag, an dem wir uns ganz im herrlichen Frühlingswetter durch den Londoner Grüngürtel haben treiben lassen.

Die Themse mit ihren vielen Schiffsanlegern haben wir dann gleich nochmal an unserem Tag am und im Tower auf uns wirken lassen. Allein der Gang über die Tower Bridge ist einzigartig.

Der Tower selbst ist äußerst sauber und aufgeräumt. Und das, was früher einmal als Gefängniszelle für privilegierte Inhaftierte genutzt wurde, würde sich heute – mit etwas mehr Heizkomfort – teuer als besonderes und gemütliches Wohnobjekt vermieten lassen: Der Bluttower. Sogar mit eigenem Mini-Garten für die Familie. Die Kronjuwelen hatten wir bei früheren Towerbesuchen schon gesehen und so haben wir uns die ellenlange Schlange geschenkt und den Tower als imposante Festungs- und Wohnanlage genossen. Mit einem Raben der eine ganze Schar fotolustiger Toursiten im Schlepptau führte. Ganz in der Tradition der alten Rattenfänger, nur das er nicht Flöte spielen musste, sondern einfach nur nach Rabenart stolzieren. Allzuviele Raben waren auch nicht da. Es scheinen einige verendet zu sein. Dafür gab es umso mehr Herolde, die in altehrwürdiger Sitte die Besucher – nach Corona-modernen Zeitslots natürlich – nach und nach mit tönender Heroldstimme hereinriefen. Ein Ohrenschmaus.

Die Geschichten um die Towertiere wurden in Bronze gegossen: Die Löwenfamilie am Towereingang, die Toweraffen auf den Wehrmauern, der Bär in drohender Pose am Torring.

Auch in die Towereigene Münze konnte man einen interessanten Blick werfen. Die Ausstellung im Weißen Turm war familiengerecht und informativ. Das Towergelände selbst fast idyllisch bei strahlendem Sonnenschein und mit den Fachwerkhäusern im Hintergrund.

Nur auf den Wehrgängen war sicher auch nicht weniger los, wenn zum Sturm auf die Festung geblasen wurde und weniger gefährlich war es sicher auch nicht, wenn man einen falschen Tritt tat und Gefahr lief, vom Hintermann im Eilschritt niedergetrampelt zu werden. Trotz all des Gedränges lag über dem Tag ein friedlicher Zauber und Besucher wie Bewacher waren freundlich und fröhlich. Der Towergraben war als herrliche Frühlingswiese gestaltet und mitten drin die Löwenfamilie. Ein Ausflug, der sich lohnte. Danach sind wir zurück in unser beschauliches Blackheath und haben uns vom Lärmen und Trubel der Großstadt erholt.

Ein Tag ebenso voller Eindrücke aber ganz anderer Art war unser Krimitag. Natürlich wollte ich endlich mal in die Baker Street und wenn wir schon da waren direkt zum Hyde Park. Als Fan der klassischen Krimiliteratur war das einfach mal fällig. In der 221B Baker Street ist ein kleines Museum und ein Museumsshop eingerichtet.

Das Museum haben wir uns gespart, aber der Shop war schon sehr gemütlich stimmungsvoll und reichte vollauf um einen Krimi-atmosphärischen Eindruck zu bekommen. Für mehr Krimiatmosphäre ist ohnehin das Krimihaus in Hillesheim in der Eifel der beste Ort, an den man fahren kann. Nachdem ich mehrere schöne Mitbringsel erworben hatte, bin ich auch gleich von dem Zerberus am Shopeingang aufgehalten worden, der mich kontrollieren wollte. Immerhin hat er ein wenig betreten dreingeschaut, als sich herausstellte, dass er da wohl das falsche Wild gestellt hatte. Eine Deerstalker-Mütze hab ich mir leider nicht gekauft, obwohl das ikonisch gewesen wäre. Sie war zu teuer für den Urlaubsbeutel. Aber immerhin habe ich mir Lesezeichen mit Sherlock-Zitaten, eine Scherenschnittgrafik mit Sherlockmotiv, gerahmte zeitgenössische Polizeiaufrufe des 19. Jhrs. und einen stabilen, großen Leinenbeutel mit Sherlock-Konterfei gegönnt, damit ich all die Einkäufe auch tragen konnte. Auf dem Weg anschließend zum Hyde Park sind wir dann noch an einer Bakery vorbeigekommen mit leckerem Brot und Brötchen. Die deutsche Brotkultur setzt sich doch europäisch durch – nur mit Lokalkolorit. In London erinnert sie ein wenig an Teehausatmosphäre, in Paris an Patisserie. Aber egal wo auch immer: Es ist gute Qualität und lecker.

Mit unseren Errungenschaften sind wir dann ganz oberirdisch durch berühmte Straßen wie die Oxfordstreet Richtung Hyde Park gegangen, um unsere Leckereien gemütlich im Park mit Blick auf den Serpentine zu genießen. Am Speakers Corner haben wir festgestellt, dass die Ecke immernoch ein Treff für redegewandte und interessierte Menschen ist. Der Hyde Park selbst ist im Quadrat angelegt, um das herum breite Wege führen. Heute werden sie vor allem von Zweirädern und Inlineskatern genutzt. Früher konnten hier die eigenen Fertigkeiten hoch zu Ross gezeigt werden. Sehen und gesehen werden.

Im Gegensatz zum Greenwich Park ist der Hyde Park heute wesentlich nüchterner und kleiner, dafür hat er eine einzigartige Rolle in der Schauerliteratur. Kaum ein (nostalgischer) Krimi oder Thriller, der nicht irgendwie mit dem Hyde Park verbunden wäre. Und tatsächlich: Kaum saßen wir gemütlich auf einer Parkbank direkt mit Blick auf den Serpentine, wurden wir Zeuge eines brutalen Mordes unmittelbar neben uns. Ich habe noch nie gesehen, wie eine Möwe eine Taube schlägt. Aber einmal ist ja immer das erste Mal. Nicht nur das. Vor unseren Augen und inmitten von flanierenden Menschen war die Möwe keineswegs scheu und lies von ihrem meuchlerischem Tun nicht ab, bis das arme Tier verendet und zum Teil gefressen war. Da brat mir einer einen Storch. Das nennt man mal wild gezähmt. Glücklicherweise hatten wir schon aufgegessen. Aber nach dieser Darbietung haben wir uns doch recht bald auf den Rückweg gemacht und waren froh, wieder in unserem beschaulichen, friedlichen Blackheath zu sein und unsere Füße in unserem Zimmer bei einem Snack von M&S in aller Ruhe hochzulegen.

Der Aufenthalt war leider viel zu kurz. Zwei weitere Tage hätte es gerne noch dauern dürfen. Aber irgendwann geht alles zu Ende und so haben wir am letzten Tag nach dem Frühstück ausgecheckt und sind so zeitig am Bahnhof gewesen, dass wir uns Kings Cross angucken konnten. Der Bahnhof an sich ist schon ein Hingucker für sich mit seinen stylischen Streben und dem ausgeklügelten Lichteinfall. Als begeisterte Harry Potter Leser haben wir uns Gleis 9 3/4 mit seinem Zaubererladen und dem durch die Backsteinwand fahrenen Gepäckwagen angeguckt.

Trotzdem der Shop überfüllt war mit Touristen, herrschte ein entspanntes multilinguales Gedränge mit einer Vielfalt an großartigen und auch weniger guten Merchandising Produkten, die in der Art von Ollivanders Zauberstabgeschäft vom Boden bis zur Decke sortiert waren. Wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das gemacht haben, weiß ich nicht, aber sie hatten alle ein freundliches Lächeln im Gesicht und nirgendwo war irgendeine Form von Stress oder Unruhe zu merken. Nicht einmal bei dem Sicherheitspersonal am Eingang und am Ausgang. Es fühlte sich fast an, wie ein Einkaufsbummel im Trubel der Winkelgasse. Wie bestellt. Und es war ein schöner Abschluss einiger herrlicher Tage zwischen Mittelaltercharme und modernem Kult.