Christopherus

Am frühen, wirklich frühen Morgen, so um halb Fünf machte Martin sich auf den Weg zur Bäckerei. Er verdiente sich vor der Schule etwas Geld mit Brötchen austragen. Sein altes Lastenrad mochte eine Klapperkiste sein, aber es leistete ihm zuverlässig seine Dienste. Mit so einem neumodischen Penny-Farthing, wie sie jetzt häufiger nach britischer Manier über den Alleenring fuhren, konnte er nichts anfangen. Das Hochrad war eine Spielerei für die jungen Tuchfabrikanten und für ihn ohnehin zu teuer. Am Fahrradlenker seiner geliebten Gurke hatte er sich eine kleine Christopherusmünze befestigt, die seine Mutter ihm geschenkt hatte. Sie sollte ihm Glück bringen und ihn unterwegs beschützen. Über die Schanz waren es kaum fünf Minuten bis zur Bäckerei. Von dort aus befuhr er eine Runde von fast 20 km bis an den Waldrand und zurück vorbei an den Parks.

Am Ende seiner Runde musste er noch durch’s Johannistal in Richtung Vaals. Die meisten Wege waren nur provisorisch befestigt, wenn überhaupt. Der Johannisbach floss so früh im Jahr ganz schön munter vor sich hin, wenn seit kurzem auch so nah an der Lochnerfabrik unterirdisch. Das Johannistal war von dem Regen der letzten Tage matschig und er musste aufpassen, dass er mit seiner kostbaren Fracht nicht ausrutschte. An diesem Morgen war die kleine Bauminsel in der Straßenmitte so aufgeweicht, dass sich die Schweine genüsslich darin wälzten. Viele Anwohner bewirtschafteten in den Hinterhöfen ihre eigene Minilandwirtschaft und einige hielten auch Nutzvieh. Hühner, Gänse, Schweine und die allgegenwärtigen Katzen, die die Rattenplage im Zaum hielten. Das Johannistal hatte sich nicht umsonst den Spitznamen „Schweinepfuhl“ verdient.

Martin umfuhr mit viel Geschick das alte Hausschwein von Nachbar Groeneworld und gurkte gekonnt zwischen den Hühnern hindurch Richtung Vaalserstraße. Der letzte Kunde auf seiner Runde war ein alter Mann in einem kleinen Haus am Rande des Lochnerparks kurz hinterm Johannistal. Vor einigen Jahren hatten sie angefangen, hier eine Menagerie aufzubauen. Auf seinem Weg musste er an dem Bärengehege vorbei. Normalerweise gruselte ihn immer ein wenig vor dem Bären und er passte besonders gut auf. Der Bär hatte in letzter Zeit die erschreckende Angewohnheit gezeigt, gegen die Gitterstäbe zu rennen. Er war schon ganz schön alt und nun auch wohl tuppig.

Heute war er allerdings ein wenig in Gedanken. Seine Kameraden und er hatten geplant, nach der Schule im Weiher am Wald zu schwimmen. Mutprobe. Es war natürlich eigentlich viel zu kalt dazu. Dummerweise hatte er seiner Mutter schon versprochen, auf seine kleine Schwester aufzupassen. Seit einiger Zeit gab es in der Fabrik eine neue Dampfmaschine, die rund um die Uhr lief. Die ganze Belegschaft musste im Schichtdienst arbeiten, damit die teure Maschine sich bezahlt machte. Da die Frauen neben der Arbeit auch Haushalt und Kinder betreuen mussten, sprachen sie sich ab und halfen einander, wenn etwas Unvorhergesehens dazwischen kam. Seine Mutter wollte ausgerechnet heute für eine Freundin einspringen, bei deren Tochter am Tag vorher die Wehen eingesetzt hatten. Das Kind ließ sich Zeit und die Hebamme brauchte Unterstützung.

Während er noch über eine gute Ausrede nachdachte, fiel ihm ein, dass dieser Tage eine große Show mit Buffelo Bill an der Gelben Kaserne angekündigt war. Eigentlich sollte er im Glaspalast auftreten, indem immer die Zirkusvorstellungen stattfanden. Aber an der Gelben Kaserne war wohl mehr Platz und vielleicht war es auch sicherer dort. Immerhin konnten die Schießkünste die wilden Tiere im Park unruhig machen. Er wäre zu gerne bei der Show dabeigewesen. Buffelo Bill war legendär und sein großes Idol. Mit seinen Kameraden spielte er häufig Cowboy und Indiana und es gab immer Streit, wer Buffelo Bill sein durfte.

Mit einemal fiel sein Blick auf die Baumgabel hoch über ihm. Da saß laut schnatternd eine Gans und gab so gar keine Ruhe. Er bremste, so fest es ging und landete mehr glücklich als gekonnt im nächsten Gebüsch. Und dann fiel der Schuss. Von Rechts? Von Links? Vor Schreck hatte er die Orientierung verloren. Mit Karacho krachte ein bepelzter Koloss direkt vor ihm in die Rabatten. „Hey Jung! Da hast du nochmal Glück gehabt. Pass das nächste Mal besser auf.“ Der Mann mit dem goldenen Schuss kam direkt auf ihn zu. „Da hat dir der alte Christopherus ja sicher zur Seite gestanden. Der Bär wollte sich wohl seinen Frühstückshappen selbst besorgen.“ Buffelo Bill stand vor ihm und nahm die schnatternde Gans in den Arm. Er hatte ihm das Leben gerettet.

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Das Körnchen Wahrheit

Die Geschichte ist reine Fiktion. Aber an einigen Stellen steckt ein Körnchen Warheit dahinter.

Aachen hatte eine lange Tuchmachertradition. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten und wirkten hier eine Reihe verdienter Fabrikantendynastien. Die Lochnerfabrik entsprang dem unternehmerischen Geschick der Familie Lochner, die bereits vorhandene Fabrikgebäude und Gelände von der Tuchmacherfamilie van Houtem übernahm und ganz neu aufstellte. Mitte der 1870er, Anfang der 1880er Jahre hatte die Familie Lochner maßgeblich dazu beigetragen, das Viertel an der Schanz ganz neu zu gestalten. An Mauerstraße und Lochnerstraße wurden moderne, burgenartige Fabrikhallen aufgebaut, der Johannisbach wurde nun unterirdisch geleitet, statt des herrschaftlichen englischen Gartens hinter der Lochnervilla wurde der neue Lochnerpark angelegt mit Menagerie und Glaspalast. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit ständiger Innovationen. Eine davon war bereits ab Anfang des 19. Jahrhunderts die Dampfmaschine, die als Antrieb für die Textilmaschinen rund um die Uhr laufen konnte und zur Rentabilität auch musste. Dieser Notwendigkeit war die Einführung des Schichtbetriebs geschuldet, da die Belegschaft unmöglich selbst auch rund um die Uhr arbeiten konnte. Etwas später folgten Erfindungen wie das Hochrad, das in Großbritannien auch Penny-Farthing nach den englischen Geldstücken genannt wurde, wegen des kleinen und des großen Rades. Eigentlich erst danach wurde neben dem Hochrad das „Sicherheitsfahrrad“ mit zwei gleich großen Rädern entwickelt, das gerne als Klapperrad bezeichnet wurde. Um der Sicherheit Martins Willen, habe ich seine Erfindung in der Geschichte jedoch etwas vorverlegt. Das Johannistal hatte tatsächlich mal den Spitznamen „Schweinepfuhl“, weil die Kanalisation des Johannisbaches noch nicht ideal war und es bei Regen schnell matschig wurde. Ob der Spitzname schon um 1890 existierte, weiß ich allerdings nicht. Eine ehemalige langjährige Johannistalerin erzählte mir dieses Ammeröllche erst vor einigen Jahren, ebenso dass die Hinterhofgärten lange Zeit von den Anwohnern nutzwirtschaftlich bewirtschaftet wurden. Ein eigenes kleines Stück Land war zur Sicherung des Lebensunterhalts bis weit in die industrialisierte Zeit durchaus üblich und Aachen hat auch heute noch viele große Hinterhöfe und Kleingärten. Der Gedanke ist also nicht abwegig. Buffelo Bill jedoch war tatsächlich 1891 in Aachen und es scheint, dass er seine Show nicht im Glaspalast im Lochnerpark, sondern vor der Gelben Kaserne an der Düppelstraße gezeigt hat. In jedem Fall war der Westernheld auf Hochwildjagd im Losheimergraben, warum nicht also auch mit bereiter Waffe im Zoologischen Garten? Christopherus ist der Schutzheilige der Reisenden und die Oecher lieben ihre Heiligen. Außerdem ist die nahegelegende, 1886 frisch mit ihren alten Steinen im neuen Turm wiederaufgebaute und geweihte Jakobskirche Teil des Jakobswegs, auf dem damals wie heute Pilger bis nach Santiago de Compostella reisten. Eine Christopherusmünze ist auch heute noch ein gern genommener Reiseschutz. Martin ist ein üblicher Name aus der Zeit. Die Idee zu diesem selbstständigen Jungen basiert auf der Geschichte des Vaters einer Freundin, der in jungen Jahren nach dem zweiten Weltkrieg noch vor der Schule Brötchen ausgetragen hat. Damals wie auch Ende des 19. Jahrhunderts packten die Kinder und Jugendlichen schon früh mit an, um die Existenz zu sichern. Zu Zeiten der Nadelfabriken, die sich mit der Zeit der Tuchfabriken zum Teil überschnitt, wurden die Jüngeren gerne eingestellt, um fehlerhafte Nadeln aus der Produktion mit ihrem kleinen Finger auszusortieren. Daraus entstand der Klenkes, mit dem sich Oecher heute noch weltweit grüßen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Quellen:

  • Tuchfabrik van Houtem / Lochner in de.wikipedia.org
  • Emil Lochner in de.wikipedia.org
  • St. Jakob (Aachen) in de.wikipedia.org
  • Aachen_Tuchfabrik van Houtem in Rheinische-Industriekuktur.de
  • Die Entwicklung des Fahrrads in fahrrad.de
  • Zeitzeugenberichte von heute