Rabensage

Tief in der Nacht mitten im Schnee stapfte er den kaum sichtbaren Pfad entlang, seinen eigenen fast gefrohrenen Odem vor Augen.

Ihm war gesagt worden, dass es eine warme Unterkunft gäbe am See, nur drei Meilen entfernt. Nun, das war zu hoffen. Drei Meilen können ganz schön lang sein besonders ohne Schneeschuhe. Über ihm schrie ein Rabe. Ein Omen? Noch ein paar Schritte, dann hätte er den Baum erreicht, der innen hohl war, für eine kurze Pause.

Der Wald hier war uralt, er hatte drei Atomkriege überlebt und mittlerweile seine Eigenheiten entwickelt. Thyrodophus war auf Forschungsreise, hatte aber die Zeit aus den Augen verloren. Er hätte schon vor drei Tagen in Hinzenweiler angekommen sein wollen. Jetzt war er in den Schneesturm geraten. Der Baum, in dem er grad für den Augenblick Schutz suchte, war innen tatsächlich fast warm. Der schneidende Wind blieb draußen. Ihm fielen vor Erschöpfung die Augen zu.

„Sieben Tage sollst du gehn.

Sieben Tage sollst du stehn.

Sieben Tage sollst du ruhn.

Sieben Tage gar nichts tun.

Am 29. Tag aber, geh der Sonne entgegen. Finde die Wurzel, die wie ein Rabe aussieht. Wende dich nach Westen und umkreise den Berg. Dort wirst du finden, was du suchst.“

War ihm die Erschöpfung zu Kopfe gestiegen? Halluzinierte er schon? Die Stimmen waren in seinen Gedanken. Sie kamen in sein Bewusstsein. Er konnte nicht anders. Der Forscherdrang war stärker. Er nahm sein Wanderbrot, Käse und Tee, stärkte sich und machte sich auf, der Sonne entgegen. Der Schneesturm hatte sich gelegt.

Tag eins brachte ihn bis zu einer Lichtung mit einem großen Felsbrocken, in dessen moosbedeckter Mulde ein kleiner silberbewehrter Schlüssel lag.

Tag zwei fand er heraus, dass die Aussparungen an der Schlüsselreite ein fremdes Muster ergaben, das wie tanzende Tiere aussah, wenn er ihn gegen das Sonnenlicht hielt.

Tag drei kam er an ein einsames Haus, in dem eine Truhe stand, in deren Schloss der Schlüssel passte. Darin waren drei kleine Behältnisse aus Bernstein, eines feiner verziert als das nächste. Der Bernstein umfasste ihm unbekannte winzigkleine Wesen, weder Tier noch Mensch.

Tag vier begegnete er in der Ferne einem jungen Mädchen, dass ein altes Lied sang. Der milde Wind trug die Worte ganz sanft zu ihm herüber: „Dereinst als ich noch glücklich war, da kämmte ich mein goldnes Haar, bis dass der Mond drauf schien. Und wie von Zauberhand ich fand, als ich es hernach band, dass Mondlicht und der helle Schein es färbten silber ein. Ach hätt ich es doch nicht gebunden, ein guter Mann hätt mich gefunden und ich dürft glücklich sein.“

Tag fünf sprach ihn einer an, ob er ihm nicht ein Stückchen Käse abgeben würde. Er hätte auch einen Kanten Brot, den könnten sie sich teilen. So aßen sie gemeinsam bis sie weiter mussten und sprachen dies und das.

Tag sechs sah er in den Himmel und bemerkte, wie die Bäume um ihn her ein Dach aus ihren Baumkronen bildeten, das seinen Weg vor dem eisigen Wind aus Norden schützte. Wie er ihre Äste ein wenig länger gegen das bald dämmrige Winterlicht betrachtete, bemerkte er, dass sie mit ihren Zweigen das Abbild einer kleinen Stadt formten, in der er früher schon einmal gewesen war. Jetzt kannte er sein Ziel.

Tag sieben schenkte ihm Frieden, denn er kam an eine alte Mauer aus wohlgesetztem Bruchstein, an der ein verlassenes Wachtürmchen stand. Von hier aus konnte er am Horizont bereits das kleine Städtchen sehen.

Tag acht bis fünfzehn stand er sicher an einer Mauer des alten Wachtürmchens, die ihn vor Kälte und Wind schützte.

Tag sechzehn bis dreiundzwanzig ruhte er gemütlich in seinem behaglichen Eck und ließ seine Gedanken schweifen. Von dem eigentümlichen Schlüssel, über die rätselhaften Bernsteinwesen, bis zum traurigen Lied des jungen Mädchens und dem munteren Gespräch mit seinem goutierenden Gefährten.

Tag vierundzwanzig wusste er nicht weiter. Wie tut man gar nichts?

Also schlief er tief und fest in einem Bett aus Moos und Reisig, das er sich in der alten Wachtstube des kleinen Türmchens gebaut hatte.

An Tag 29 machte er sich auf der Sonne entgegen. Es dauerte auch gar nicht lang, bis er die Wurzel fand, die wie ein Rabe aussah. Es war die Wurzel einer uralten Ulme, die am Fuße eines kleinen Berges wuchs. Er wandte sich gen Westen und umrundete den Berg einmal.

Auf der Wurzel der alten Ulme saß jetzt ein großer Rabe. Er sprach ihn an. „Nun, bist du klüger geworden auf deiner Wanderschaft?“ „Aber ja. Mir fehlt nur die letzte Erkenntnis.“ Da nahm der Rabe den silbernen Schlüssel, flog hinauf bis zur Krone des Baums und ließ ihn fallen. Der Schlüssel fiel durch die schneebedeckten Zweige. Durch den eisigen Wind frohr der Schnee hauchfein auf seiner Oberfläche, so dass er jetzt aussah, als sei er in Glas getaucht. „Nun, Thyrodophus, jetzt nimm die drei Bernsteingefäße und stelle sie hier gegen das Licht auf den Stein.“ Thyrodophus nahm die Gefäße mit den unbekannten Bernsteinwesen und stellte sie eines neben dem anderen auf. „Jetzt häng den Schlüssel kopfüber an seinem Bart in diesen Ast.“ Thyrodophus befestigte den kleinen silbernen Schlüssel mit einem Stück Hanfband, so dass das späte Sonnenlicht durch seine gefrohrene Reite fiel. Im Tanz von Licht und Wind, die zwischen die Zweiglein strömten, erwachten die kleinen Bernsteinwesen zum Leben. Sie erzählten die Geschichte eines uralten Volkes, das in der unwirtlichen und doch gnädigen Natur sein Dasein bestritt, zusammen mit wilden Tieren und fremdartigen Pflanzen. Sie erzählten von der Jagd, von der Suche, vom Beisammensein, vom Gesang am heimeligen Lager, von Liebe, Tod und Grausamkeit und Güte. Sie erzählten vom Leben.

„Nun, Thyrodophus. Verstehst du jetzt?“

„Wir Völker waren und sind immer gleich. Das wird sich niemals ändern.“ „Ganz genau. Nun geh endlich los und such nicht weiter. In dem Städtchen dorthinten wartet Marieann. Frag sie, ob sie deine Frau werden will. Ihr Vater hat dir doch sein Einverständnis bei Brot und Käse längst gegeben.“

Und so wurde Hochzeit gefeiert in Hinzenweiler. Eine Hochzeit, die sieben Tage und sieben Nächte das Städtchen in Gesang und Tanz und fröhlichem Geplauder erklingen ließ.