Liège. Eine Stadt zwischen Mittelalter und Moderne. Zwischen Industrie und Kultur. Eine Stadt am, über und unter dem Wasser. Eine Stadt voller Geschichte(n).
An einem bedeckten Morgen fuhren wir los Richtung Lüttich. Das Euregioticket galt für zwei und so konnten wir uns ohne weitere Gedanken durch das Rhein-Maas Gebiet treiben lassen. Ziel war das Rote Rathaus am Place du Marché, gleich am Gare du Liège-Saint-Lambert. Links treppab und rechts am Palace du Justice vorbei. Eigentlich recht einfach.
Auf den Spuren von Kommissar Maigret und seinem Erschaffer. Eine Führung organisiert im Rahmen der Krimitage. Bis zur Vorankündigung wusste ich nicht, dass Georges Simenon direkt um die Ecke in Lüttich geboren und aufgewachsen war. Hier wurde seine Persönlichkeit geprägt und hier ließ er seine ersten Maigret-Geschichten spielen: „Le Pendu de Saint-Pholien“ und „La Danseuse du Gai-Moulin“ Vor allem „Die Wahrheit über Bébé Donge“ hat mich beeindruckt und letztlich die Maigret-Filme mit Jean Gabin. Die entstanden jedoch wesentlich später. Die Lütticher Werke kenn ich nicht und werde sie mir erschließen. Zumal wir auf unserer Tour sowohl die Kirche Saint-Pholien als auch die Häuserzeile gesehen haben, in der er seine jugendlich, philosophische Sturm und Drang Phase in einem Hinterzimmer gelebt hat. Geburtshaus, Wohnhäuser, Wirkstätten und das Drumherum.

Die Familie Simenon lebte bereits lange in Lüttich und war dort verwurzelt. Ein Blick in das original Geburtsregister der Kirche Saint-Denis, in der Georges Joseph Christian getauft wurde, weckt denn noch einmal die fast vergessenen Historikerinstinkte und Begeisterung an der Lebendigkeit von Primärquellen in mir. Soviel zum Schwarm für den rustikalen Krimischreiber. Die Ernüchterung erfolgt bei genauerem Hinsehen. Sowohl auf den Schreiber als auch auf die Stadt.
Saint-Denis – Der Zustand der Kirche ist symptomatisch für den Zustand der Lütticher Altstadt. Auf der einen Seite wundervolle Fresken, Marmor, Bild- und Glaskunst. Auf der anderen Seite blätternder Putz und Schwamm an den Schindeln. Mittelalterliche Häuser, deren knorrige Fachwerkbalken rissig, porös und dringend restaurierungsbedürftig sind. Geschwungene Gässchen, die wie eine Zeitreise ins ausgehende 19. Jahrhundert wirken, als Lüttich zuerst und vor alledem Industriestadt war. Es wirkt verwarlost und wie eine autentische Spiegelung der Zeit Georges Simenons.

Und doch sieht man die ersten restaurierten Gebäude und die Freude am Aufleben der alten Glorie. Gründerzeithäuser, die mit viel Liebe zum Detail saniert worden sind. Kaffeehausatmosphäre, die alt und modern verbindet. Anstatt der alten Pferdestraßenbahn fährt heute eine Elektrische über den Place du Marché. Vermutlich mit genauso viel Risikopotenial wie die alte. Damals wurden zwei kleine Jungen tödlich verletzt. Der Schock saß so tief, dass die Betreiberfirma genügend Geld sammeln konnte, um Tore vor die engen Wohngassen zu setzen, damit die Kinder beim Spielen geschützt waren. Wer kommt heut noch auf die Idee, dass Kinderleben so schützenswert ist, dass er dafür sein hart erarbeitetes Geld hergeben würde. Bitterer Gedanke, dass dieselben Fehler immer wieder und überall gemacht werden. Als könnte man nicht aus der Vergangenheit lernen, wenn sie nur lang genug vorbei ist.
Zum Abschluss ein Hoffnungsschimmer. Eine kleine Boulangerie in der – wie auch schon in Paris – die neue Brotkultur Einzug gehalten hat. Köstlich, leicht und lecker. Und das für nur 2,10 €. Halb so teuer wie daheim.
Lüttich ist in jedem Fall insprierend und eine Reise wert.

